Matthias Dörsam ringt um das richtige Wort und entscheidet sich dann für „Gast”. Schwarzer Humor gehört eben auch zur Krisenbewältigung in Coronazeiten. Natürlich geht es um das Coronavirus, 120 nm klein, und in seiner Neigung sich in Massen auszubreiten derzeit der größte Feind von Mensch und Kultur. Die orangene Dummbratze im weißen Haus hat immerhin die Herkunft des Virus korrekt erkannt, und die Flugstrecke „Amber 575”, von Peking nach Frankfurt hat vermutlich tatsächlich ihren Teil dazu beigetragen die unerbetenen „Gäste” nach Deutschland zu importieren.
Schon im Jahr 2012 hatten Flugkapitän Paul Depprich und der Fürther Musiker Matthias Dörsam die Idee einen kompletten Flug von Peking nach Frankfurt zu vertonen. In einer Liverperformance, die den rund zehnstündigen Flug auf eine Leinwand brachte, und eine Schar von Musikern in die kleine Studiobühne Fürth lockte um den Film zu begleiten. Im Grunde leicht verrückt, besticht der Flug doch im wesentlichen aus dem fast meditativen Durchgleiten von höheren Luftschichten in Tausenden Metern Höhe, ohne spektakuläre optische Extravaganzen. Ein außergewöhnliches Kunst- und Musikprojekt damals schon.
Im Jahr 2020 gibt es die Neuauflage. Der gleiche Film, diesmal in den Kontext des Jahresthemas gestellt. Mit diesmal 40 Musikern – warum 40 wird im Interview erklärt – aus der Quarantäne heraus in die Welt geworfen. Mit überschaubaren Regeln fürs Mitspielen, und in der aktuellen Version zudem als ungewöhnliche Möglichkeit die beteiligten Musiker zu unterstützen: ganz simpel durch den Kauf des Werks.
Ich hatte die Gelegenheit Matthias Dörsam nicht nur zu diesem Projekt zu befragen, sondern zudem einen Einblick in seine aktuelle Lebenssituation als Musiker, Komponist, Studioinhaber und nicht zuletzt Konzertveranstalter zu gewinnen.
Flug und Zeit
„COVID-19 follows Amber 575“
Wu Wei, Matthias Dörsam, Gerd Baier , Mario Fadani, Roland Vanecek, Veronica Todorova, Ravi Srinivasan, Raphael Zweifel, Jörg Teichert, Olaf Schönborn, Claus Hessler, Sachie Matsushita, Stefan Kirsch, Elvira Plenar, Dirik Schilgen, Matthias Debus , Jochen Seiterle, Martin Bärenz, Laurent Leroi , Fredi Alberti, Alberto Menendez, Erwin Ditzner, Chris Jarrett, Gert Anklam , Stephan Schmolck , Jose Rodriguez, Harold Nardelli, Scott Roller, Rudi Mahall, Claus Boesser-Ferrari, Beate Gatscha , Kurt Holzkämper, Franz-Jürgen Dorsam, Peter Antony, Norbert Dömling , Ernst Bier, Christopher Herrmann, Jutta Glaser,Tony Clark.
Fürth. Das zehn Stunden lange Werk ist fertig: 40 Musiker haben in einem Benefizprojekt zugunsten von Künstlern in der auftrittsfreien Zeit den Film von Paul Depprich vertont, der als Pilot den Flug von Peking nach Frankfurt ohne Schnitt aus dem Cockpit heraus aufgenommen hatte – wir haben berichtet. Etliche Fäden dieses Projektes liefen im Laukas Studio von Matthias Dörsam in Fürth zusammen.
„Der Film ist fertig – und damit fängt der Teil der Arbeit an, der für einen musischen Menschen schwer wird“, sagt dieser und meint das Verkaufen – „oder neudeutsch: das Marketing“. Bei Kunstprojekten wie diesem erwarte man zwar nicht, so richtig Geld zu verdienen – „aber eine kleine monetarische Unterstützung in konzertfreien Zeiten ist doch hilfreich“, erklärt Dörsam.
Raus aus der „Coronalethargie“
Der Aufruf zur Mitarbeit an diesem Projekt, den Paul Depprich und Matthias Dörsam inmitten der Coronakrise starteten, traf auf große Resonanz. „Einige Musiker waren zwar schon etwas in eine Art ,Coronalethargie‘ verfallen, andere aber voller Tatendrang und frei gewordener, ungebremster Energie“, berichtet der Musiker, Produzent und Betreiber der Studiobühne in Fürth.
Viele der beteiligten Musiker waren auch schon 2012 mit dabei, als der Zehn-Stunden-Film in der Studiobühne gezeigt und über die gesamte Spielzeit live vertont worden war. Allerdings hatte sich bei dem aktuellen Projekt der Teilnehmerkreis, auch bedingt durch die Aufgabenstellung, noch einmal erweitert.
Es sollten genau 40 Musiker sein, abgeleitet vom Begriff Quarantäne. Dieser geht nämlich zurück auf die Zeit der großen Pest-Epidemie im 14. Jahrhundert, während dieser Venedig durch eine 40-tägige Quarantäne der Seeleute geschützt werden sollte.
„covid-19 follows amber 575“ ist Titel und Thema des Projekts. Amber 575 ist der Name der imaginären Luftstraße, die vermutlich der am meisten benutze Weg des Virus nach Europa war. Ein weiteres zentrales Motiv ist das Phänomen der verschobenen Zeitempfindung: Beim Blick aus dem Cockpitfenster scheint sich stundenlang nichts zu bewegen, obwohl die Reisenden mit einer der höchsten Geschwindigkeiten unterwegs sind, die Menschen möglich ist.
Ganz im „Covid-19-Homeoffice-Style“ sollte jeder Musiker seinen Part (15 Minuten Solo-Improvisation) alleine aufnehmen. „Damit waren wir natürlich auch nicht örtlich gebunden und Beiträge aus aller Welt möglich“, so Dörsam. Und die kamen auch: China, Amerika, Frankreich, England, Japan, Schweiz . . . – insgesamt zwölf Nationen sind musikalisch vertreten und das ist auch ganz im Sinne des Projekts. „Die Welt ist rund und überhaupt nicht dazu gemacht, in kleingeistige enge Felder eingeteilt zu werden, die durch nationalistische Gedanken isoliert werden“, sagt der Fürther Musiker. Das habe das Virus auch wieder, wie schon andere Plagen vorher, eindrücklich gezeigt. So ist dieser „Musikfilm“ ein klares Signal für eine intelligente, gemeinsame Gestaltung der Erde.
Die Beiträge der Künstler sind sehr verschieden, eine bunte Mischung von Ideen mit verschiedensten Instrumenten und Stimmen. Von wirklichen Solobeiträgen, die den nackten Ton des Instrumentes oder der Stimme widergeben, bis zu Mehrspuraufnahmen mit einem oder verschiedenen Instrumenten, Aufnahmen, die mit Loops gespielt sind und teilweise ganz freien Soundatmosphären ist alles dabei.
Das „C“ als einzige Vorgabe
Die einzige Vorgabe an die Musiker war, mit einem klingenden „C“, egal in welcher Lage, anzufangen und nach 15 Minuten wieder mit einem „C“ aufzuhören. „Damit wurden die Übergänge so harmonisch, dass die Beiträge fast nicht hörbar ineinanderfließen und ein, trotz der großen Bandbreite, vollkommen homogenes Bild entsteht“, erklärt Dörsam.
Die Freien, mit Loops gestalteten, Stimmimprovisationen von Jutta Glaser oder Jose Rodriguez zum Beispiel sind eigentlich so weit entfernt von den in Richtung Neue Musik/Klassik gehenden Improvisationen des Pianisten Chris Jarrett, oder den Klängen des Chinesen Wu Wei. Und die zarten Töne des von Sachie Matsushita gespielten Fender-Rhodes-Pianos, haben scheinbar nichts gemein mit der extremen Intensität des Bassklarinettenbeitrags von Rudi Mahall. „Und doch passt alles wunderbar zusammen. Alle 40 Musiker haben sich ihren ganz persönlichen Zugang zum Film und dem Thema geschaffen“, resümiert Dörsam. arn
Der Film „covid-19 follows
amber 575“ kann unter dem unten stehenden Link gekauft werden
Fürth. Amber 575: So heißt die Lufttrasse, entlang derer Flugzeuge von Peking nach Europa fliegen. Auf diesem „Airway“ ist mutmaßlich auch das neuartige Coronavirus von China aus nach Deutschland gelangt. Dies ist jedenfalls der Gedanke hinter einem Kunstprojekt, an dem auch der Fürther Musiker und Produzent Matthias „Mattl“ Dörsam maßgeblich beteiligt ist.
Basis des Projektes ist ein außergewöhnlicher Film: Der ehemalige Lufthansapilot Paul Depprich hat in seiner aktiven Zeit einen Flug von Peking nach Frankfurt aufgenommen – aus dem Cockpitfenster heraus, ohne Schnitt, 10 Stunden und 15 Minuten lang. Seine aktuelle Idee: 40 Künstler sollen dieses Werk nun vertonen, jeder davon mit jeweils 15 Minuten langen, im „Homeoffice“ aufgenommenen Musikstücken. Am Ende stehen 600 Minuten Musik, die den ebenso langen Film unterlegen.
Auf der Route des Virus
Vordergründig ist das eine kreative Benefizaktion in eigener Sache. Der fertig vertonte Film wird zum Kauf angeboten, um die Musiker zu unterstützen, die während der Coronakrise keine Auftritte und damit auch keine Einnahmen haben. Aber Mattl Dörsam ist diesbezüglich auch Realist: „Die Verkaufszahlen werden wird sich sicherlich in Grenzen halten – es zählt eher die Sache an sich, die Kunst.“
„Covid-19 follows Amber 575“ ist der Titel des Projekts – das Virus folgt dieser imaginären Luftstraße von China nach Europa. Unterlegt von Musik, die ebenso grenzüberschreitenden ist. „Es sind extrem unterschiedliche Beiträge“, berichtet Dörsam, in dessen Laukas Tonstudio in Fürth bereits fast ein Drittel der 40 Beiträge „eingeflogen“ sind. Seine Musikerkollegen hätten sich viel überlegt, ist er beeindruckt. Musik, die sich nicht an nationale Grenzen und Traditionen hält – ebenso wenig, wie das Virus.
Krasse Gegensätze
Die Vorgabe war denkbar einfach: „Jeder spielt zuhause mit seinem Instrument 15 Minuten Musik ein – frei, improvisiert, gerne abstrakt und abgefahren.“ Insbesondere an Letzteres haben sich die Beteiligten bislang wohl gehalten. „Das ist teilweise schon harter Tobak“, lacht Mattl Dörsam.
Diese musikalische Aufgeregtheit, jenseits kompositorischer Normen, steht in einem spannenden Gegensatz zum „Inhalt“ des Films. In diesem passiert nämlich zehn Stunden lang rein garnichts. Abgesehen von Start und Landung ist über die allermeiste Zeit nur eine weiße Wolkenwand zu sehen, die nicht einmal den Blick auf die überflogenen Landschaften, Gewässer und Städte freigibt.
„Das ist eine Verrücktheit: Ein Gefühl von Stillstand, während du mit über 1000 Kilometern pro Stunde über die Erde rast“, so Dörsam. Es ist diese völlige Abstinenz von Zeitgefühl, als Widerpart zu unserem oft streng durchgetakteten Alttag, die den Film besonders macht. „Sich darauf einzulassen bringt dich – im positiven Sinn – aus dem Takt“, erklärt der Fürther Musiker. Unendlich langsam und unfassbar schnell zugleich – dieses Spannungsfeld sollen auch Film und Musik im Zusammenspiel kreieren.
Weltenbürger als Ideengeber
Auf bemerkenswerte Art und Weise gelungen ist dies bereits einmal in der Fürther Studiobühne. Im Oktober 2012 hat eine Vielzahl von Musikern dort live die Vertonung übernommen, während auf der Leinwand besagter Film lief. Das Projekt trug damals den Titel „Kommt Ai Weiwei mit dem Fahrrad?“. Über zehn Stunden improvisierte Livemusik – selbst für geübte Konzertgänger eine Herausforderung. „Die meisten Gäste sind zwischendurch gekommen und gegangen – aber zwei Frauen waren tatsächlich die ganze Zeit da“, erinnert sich Dörsam.
Einige der damals beteiligten Künstler sind auch jetzt wieder dabei, andere sind neu. Der Start in Peking wurde einem Chinesen übertragen: Wu Wei an der Sheng, in normalen Zeiten zuhause auf den großen Bühnen der Welt, bringt das 365 Tonnen schwere Flugzeug in die Luft, das dann zehn Stunden später, 255 Tonnen leichter, mit dem Dies- Irae-Motiv, der Totensequenz seit dem Mittelalter, wieder landet. Am Ende steht die Europaflagge als Zeichen der Solidarität.
Mit dem ehemaligen Flugkapitän und jetzigen Ideengeber Paul Depprich verbindet Dörsam eine lange Freundschaft. Alles begann vor 25 Jahren mit einem Anruf: Depprich wollte von Dörsam wissen, ob er bei ihm Flötenunterricht nehmen könne. „Ich habe gesagt: Okay, dienstags? Die Antwort: Da bin ich in Tokio. Also fragte ich: Donnerstag? Die Antwort: Da bin ich in New York“, berichtet Mattl Dörsam lachend. So hatte er vom ersten Kennenlernen an das – treffende – Gefühl, einem „Weltenbürger“ begegnet zu sein. Einem Menschen, den keine Grenzen einengen und der sich der Kunst überaus verbunden fühlt – selbst Künstler ist.
Nun hat er den Anstoß zu einem einzigartigen Kunstprojekt gegeben, das in einer besonderen Zeit voller Herausforderung einerseits einen kreativen Ansatz bietet, mit dem Virus umzugehen, andererseits aber auch dessen finanzielle Folgen wenigstens ein bisschen zu lindern hilft.
Wer den Film als Video-on-demand bestellen will, kann sich an Matthias Dörsam wenden oder sich über www.corona-jazz-help.support informieren
Siehe auch: Die globale Sicht auf den Schock
"Kommt Ai Weiwei mit dem Fahrrad ?"
Studiobühne 07.10.2012
http://vimeo.com/channels/kommtaiweiwei
"Kommt Ai Weiwei mit dem Fahrrad ?"
Ein Film von Paul Depprich.
Hier die Links zu den Liveaufnahmen der Performance in der
Studiobühne am 07.10.2012 in 9 Teilen
Mitwirkende:
Matthias Debus - Bass, Otto Engelhardt - Piano, Trombone,
Gerd Baier - Piano, Mario Fadani - Bass,
Paul Depprich - LCC-Composition, JörgTeichert - Guitar/Voc, Elvira Plenar - Piano, Norbert Dömling - Bass,
Hans Reffert - Guitar, Bernd Hoffman - Guitar,
Michael Dorka - Uilleann pipes, Claudia Hutter,- Wort,
Ax Genrich Trio, Norbert Reichard - Didgeridoo,
Ralf-Werner Kopp - Trompete, T.U.E.S -
Jochen Seiterle (guit )- Peter Antony (Piano/Keyb),
You Win Again, Alfred Baumgartner - Kunstpfeifer/Gitarre,
Dirik Schilgen - Drums, Franz Jürgen Dörsam - Fagott -
Michael Valentin (Gesang), Stephan Schmolck - Bass,
Martin Bärenz - Cello, Manuel Bärenz - Piano,
Jean-Michel Räber - Wort, Martina Pracht - Klangschalen, tevana.eu - Ingvo Clauder (Perc.), Claudio Spieler (Piano),
Tony Clark - Shakuhachi, Michi Köhler (Pianotuning),
Jürgen Kilian (Tr.) Matthias Dörsam (Klari. Sax.),
Tom Rittler - Akk, Olaf Schönborn - Altosax, tevana.eu,
Martina Pracht - Flöte, Michael Köhler - Piano.
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